Eigenh. Brief mit U. („Tischendorf“).
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Lobegott Friedrich Constantin von Tischendorf (1815–1874), Theologe, Orientalist und Paläograph. E. Brief mit U. („Tischendorf“). Leipzig, 1. März 1856. 6 SS. auf 4 (= 2 Doppel)Blatt. Gr.-8°. – Sehr umfangreicher Brief an den Ägyptologen Heinrich Brugsch-Pascha (1827–1894) über Tischendorfs Bemühungen, den Fälschungsverdacht, unter den das „Uranios“-Palimpsest des griechischen Manuskripthändlers Konstantinos Simonides (1820–1867) geraten war, zu verifizieren. Dabei zeigt sich, daß Tischendorf mit Brugsch eine starke Abneigung gegen den Ägyptologen Richard Lepsius verbindet. Tischendorf bittet Brugsch, ihm einige Passagen des in Berlin wegen vermuteten Betruges in Polizeigewahrsam befindlichen „Uranios“-Palimpsests durchzupausen, damit er Schriftvergleiche anstellen könne: „Wie doch so oft die Rollen wechseln in der Welt: vor einem Monat gaben Sie mir eine Mission zu Dindorf [der Altphilologe Ludwig Dindorf, 1805–1871, war Professor in Leipzig und hielt das Uranios-Manuskript für echt] um in den Uranios näher einzudringen, heute muthe ich Ihnen einen solchen aber noch tiefer eingehenden u. schwierigeren Dienst zu. Sie kennen die polemischen Berührungen meiner Feder u. des Hn. P[rof.] Lepsius. Ich bin dazu aufs Unerwünschteste gekommen, aber nun soll es auch keinen Augenblick an mir fehlen um dem Manne den Beweis zu liefern, daß sich mit der Wissenschaft so wenig als mit dem Charakter, ich könnte auch sagen, dem ehrlichen Charakter, scherzen läßt. Sie werden darin eine große Genugthuung finden, ich kann mirs leicht denken. Wer weiß wozu es für mich u. für Sie dienen soll. Lepsius, das kann ich Ihnen versichern, hat sich durch seine Briefe u. öffentl. Auslassungen solche moralische Blößen in meinen Augen gegeben, daß ich davon für alle Zeit genug habe. Nur eines noch voraus, das Sie auch selbst berührt. Sie wissen, daß ich in meinem ersten Briefe vom 3. Febr. von Ihrer Mittheilung, daß v. Humboldt ‚nicht sehr an die Aechth. des Uranios glaubt[’] u. eine Scheu vor allen diesen [?] Uranisirern [?] habe, einen Gebrauch insofern machte, als ich sagte ‚und Humboldt wurde mir als Zweifler namhaft gemacht’. Humboldt selbst hat mirs hinlänglich in seinem Briefe v. 3 Febr. Nachts bestätigt. Lepsius hingegen schreibt ganz entschieden, ‚Humboldt habe auf meine Mittheilung selbst anfangs wenig Gewicht gelegt u. sich von der Wahrheit des Betrugs erst allmählich (so unterstrichen v Lepsius selbst) überzeugt’, ‚als ich (näml. Lepsius) ihm meine Gründe dafür auseinandersetzte. Wer Ihnen über Humb.’s frühere Zweifel anders berichtet hat, hat Sie falsch berichtet.’ Ist das nicht stark, da doch die Mittheilung von Ihrer Hand aus dem vollen Berliner Enthusiasmus stammte, wo der Zweifel gar zu keiner Ehre gereichen konnte? Doch dergl: gibts noch mehr. Was aber nun meine Mission, meine Bitte anlangt, so ists folgendes. Ich muß mein Wort, über die Paläographie des Simonides Rechenschaft zu geben, bestmöglichst lösen. Dazu bedarf ich aber einiger Facsimilirungen. Da ich vermuthen muß, daß es ev[entuel]l leichter erreichbar ist, dort in Berlin, wo die Palimpseste wohl in den polizeil: Händen sind, einige Durchzeichnungen auszuführen, als daß man mir einige Blätter zu demselben Zweck nach Leipzig schickt, so frage ich an, ob es Ihnen – Ihrer mir als musterhaft bekannten Hand – nicht möglich ist, sobald als es gestattet wird, einige Zeilen des Uranios Palimps., vielleicht 5–8, u. nur Columnenzeilen, sowie auch das Hermes Palimps. genau auf Strohpapier durchzuzeichnen. Es bedarf dabei nur der unteren, nicht der oberen Schrift. Die nähere Bezeichnung dessen was mir am erwünschtesten wär, lege ich auf dem Zettel noch bei [...]“. – Auf den zwei folgenden Seiten erörtert Tischendorf ausführlich, auf welche Schriftzeichen mit ihren unterschiedlichen Formen es ihm vor allem ankomme: „[...] Meine paläographische Schrift wird schwerlich eine Ehrentafel für diesen ehrenwerthen Herrn Collegen [d. i. Lepsius] werden, der in seiner Antw. auf denselben so gefährlichen paläolog. Brief von mir am Schlusse wörtlich sagt: ‚Es würde mich sehr erfreuen wenn ich einmal Gelegenheit haben sollte, mit Ihnen als unserm ersten Handschriftenkenner die oben von mir beantworteten Pkte nochmals mündlich u dann wohl verständlicher durchzusprechen’, nachdem es vorher schon geheißen: ‚u darin hat sich Ihre paläogr. Kennerschaft entschieden bewährt’, sowie ‚andererseits können wir jetzt Alle, u. Sie vor Allen (Lepsiusunterstriche [die hier in der Transkription nicht wiedergegeben sind]) an jedem Buchstaben nachweisen daß er in irgendeinem Pktchen v. den uns bekannten Vorbildern abweicht’. [...] Übrigens müssen Sie mir auch schreiben, was man denn da und dort von meinen Aufsätzen bei Ihnen denkt, namtl. was Humboldt dazu sagt. Ich kann doch nicht glauben, daß er die unüberlegten Provokationen des Prof. Lepsius billigt, wodurch ich erst zu meinen Schritten genöthigt wurde. Weiß man denn schon etwas wie die weiteren Verhandlungen mit Simon[ides] geführt werden sollen? Euer großer Hauptfux [?] wird wünschen müssen, nicht nur mit einigen ächten griech. Palimpsesten die Unächtheit der Simonidischen vor Augen zu legen, sondern auch überhaupt in Person zu dieser allerdings interessanten Beweisführung gerufen zu werden. Ich halte dies für nicht ganz unmöglich, da dort die Akademie zu nahe u. zu widerspruchsvoll bei der Sache betheiligt ist, um in der Sache offiziell u. aktiv auftreten zu können [...]“. – Gehaltvoller und interessanter Brief über den Stand der Handschriftenforschung und über die Animositäten unter den Koryphäen des Faches um die Mitte des 19. Jahrhunderts. – Tischendorf gilt als einer der bedeutendsten Erforscher und Herausgeber antiker Bibelhandschriften und war Entdecker und Editor des „Codex Sinaiticus“, der frühesten kompletten Handschrift des Neuen Testaments (1815–1874).