Friedrich Wilhelm Adolph Marr

Marr, Friedrich Wilhelm Adolph

deutscher Journalist (1819-1904). Eigenh. Brief mit Unterschrift. Leipzig. 8vo. 3 pp.
$ 373 / 350 € (62886)

An den österreichischen Musikschriftsteller Theodor Helm (1843-1920) in Verlagsfragen. - Er propagierte im deutschen Sprachraum als Erster den Anarchismus. 1879 prägte er den Begriff Antisemitismus und gründete die erste antisemitische politische Vereinigung: die Antisemitenliga. - Wilhelm Marr wurde in Magdeburg geboren. Er war der einzige Sohn des Schauspielers und Regisseurs Heinrich Marr und dessen Ehefrau Henriette Catharina geb. Becherer, die am 21. März 1819 in Braunschweig geheiratet hatten.

Von 1825 an besuchte er die Volksschule in Hannover und anschließend die Realschule in Braunschweig. Beruflich durchlief er in Hamburg und Bremen eine Kaufmannslehre, zog 1839 zu seinem Vater nach Wien, der am Burgtheater beschäftigt war, und arbeitete als Handlungsgehilfe bei zwei jüdischen Firmen. 1841 ging er nach Zürich und machte dort Bekanntschaft mit Georg Herwegh, Julius Fröbel und August Adolf Follen, allesamt politische Emigranten und linke Oppositionelle. Diese Begegnungen bildeten ein Schlüsselerlebnis in seinem Leben. Er veröffentlichte den Gedichtband Freie Trabanten und wurde 1843 wegen kommunistischer Umtriebe aus Zürich ausgewiesen. Anschließend lebte er in Lausanne und trat in näheren Kontakt mit Hermann Döleke und Julius Standau, die beide den Léman-Bund, einen jungdeutschen Geheimbund, ins Leben gerufen hatten, den er bald zu seinem persönlichen Machtinstrument umfunktionierte. Marr wandelte sich zum Anarchisten sowie Atheisten, gründete den geheimen Schweizerischen Arbeiterbund und gab die junghegelianisch-atheistischen Blätter der Gegenwart für sociales Leben (1844/45) heraus. 1845 wurde er auch aus Lausanne ausgewiesen und veröffentlichte im folgenden Jahr die Schrift Das junge Deutschland in der Schweiz, in der er seine antiliberale Grundhaltung durchscheinen ließ. 1845 ließ sich Marr in Hamburg nieder und wurde politischer Journalist, so bei dem von ihm gegründeten satirischen Witzblatt Mephistopheles (1847/48–1852). Er gehörte zu den extrem linken Anhängern der radikal-demokratischen Partei und wurde 1848 als Deputierter nach Frankfurt am Main entsandt. Das erste Mal polemisierte er gegen die Judenemanzipation und führte als Grund seine Abneigung gegen den Liberalismus an, der sich den jüdisch konnotierten Kapitalinteressen verschrieben habe. Nach dem Scheitern seiner politischen Vorstellungen über einen deutschen Zukunftsstaat – einer demokratischen Republik – wurde er zum energischen Befürworter eines deutschen Staates unter preußischer Hegemonie. 1852 ging er – von den aktuellen politischen Verhältnissen frustriert – vorübergehend nach Übersee, nach Costa Rica, um dort als Kaufmann sein Geld zu verdienen. Erfolglos kam Marr wieder nach Hamburg zurück und arbeitete erneut im journalistischen Bereich. 1854 heiratete er Georgine Johanna Bertha Callenbach, deren Vater sich vom Judentum losgesagt hatte. Die Ehe wurde 1873 geschieden. Marr war im Vorstand des „Demokratischen Vereins“ und seit 1861/62 in der Hamburgischen Bürgerschaft vertreten. Sein politischer Radikalismus bestand fort; so verfasste er 1862 einen antisemitischen Beitrag im Courier an der Weser, in dem er den Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft, Gabriel Riesser, einen liberalen Juden und Vorkämpfer der Judenemanzipation, attackierte. Er warf den Juden vor, die Emanzipation zu missbrauchen, um sich wirtschaftliche und politische Machtpositionen innerhalb der Hamburger Kaufmannsoligarchie zu sichern. Nach dem Erreichen dieser Positionen hätten sie die demokratischen Ideale des Liberalismus verraten. Der Protest gegen den Artikel führte zur Aufgabe seiner politischen Ämter. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik redigierte er Die Nessel (1864), den Beobachter an der Elbe (1865/66), das Sonntagsblatt Der Kosmopolit (1866), wurde schließlich leitender Redakteur der Berliner Post (1869/71) und war zudem für die Weimarische Zeitung (1874/75) tätig. Nebenher verfasste er u.a. Artikel für Die Gartenlaube. 1874 heiratete Marr die Jüdin Helene Sophia Emma Maria Behrend, die noch im selben Jahr starb. Marrs dritte Gattin wurde 1875 die geschiedene Jenny Therese Kornick, die einen jüdischen Elternteil hatte. Aus dieser Ehe stammt der Sohn Heinz Marr. 1877 wurde diese Ehe geschieden. Seine vierte und letzte Ehefrau wurde Clara Maria Kelch, die aus einer Hamburger Arbeiterfamilie stammte. In Berlin erschien im Februar 1879 Marrs Propagandaschrift "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet" und 1880 Marrs Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum – 4. Aufl. von "Wählet keinen Juden". Damit stieg er vorübergehend zum Wortführer des politischen Antisemitismus auf. Im selben Jahr gründete er auch die nur kurz existierende Antisemitenliga und gab bis 1880 ihr offizielles Organ, Die neue deutsche Wacht, heraus. Marr grenzte sich in seinen Schriften von der traditionellen religiösen Judenfeindschaft ab und behauptete, dass die Juden eine fremde Rasse von „Parasiten“ seien, die erfolgreich die Ausbeutung Deutschlands betreibe. Diesen Paradigmenwechsel von Religion zu Rasse verdeutlichte er durch die Einführung des Begriffs „Antisemitismus“ in den zeitgenössischen politisch-gesellschaftlichen Diskurs. Es ist allerdings nicht sicher, dass die Begriffsschöpfung tatsächlich auf ihn zurückgeht, da das Adjektiv „antisemitisch“ schon 1873 belegt ist. Agitatorisch erreichte Marr große Resonanz, parteipolitisch hatte er einen Misserfolg nach dem anderen einzustecken. 1890 zog er sich, gesundheitlich angeschlagen und politisch verbittert, ins Privatleben zurück und geriet zuletzt noch in Streit mit seinem Schüler Theodor Fritsch, den er des „Geschäftsantisemitismus“ bezichtigte. Politisch war Marr mit seiner Liga ab 1880 isoliert, da andere Antisemiten neue Parteien gründeten und eine allzu offene rassistische Propaganda ablehnten. Als Linksliberaler und Atheist blieb er innerhalb der antisemitischen Szene ein Außenseiter. Umgekehrt war er bei der politischen Linken wegen seines Antisemitismus diskreditiert. Jedoch prägte Marr wesentliche Klischees und Schlagworte, die weit über seinen persönlichen Erfolg hinaus weiterwirkten und die Diskussion um die „Judenfrage“ bestimmten. So legte er 1880 mit seiner Schrift Goldene Ratten und rothe Mäuse die Basis für die verschwörungstheoretische Gleichsetzung von Judentum, Kapitalismus und Kommunismus, wie sie später Adolf Hitler in Mein Kampf vertrat:[1] „Von zwei Seiten wird also die Zerstörung der Gesellschaft betrieben; von Seiten der goldenen und rothen Internationale. Dort vom Standpunkt des krassesten Individualismus aus, hier vom mehr oder weniger bewussten kommunistischen Standpunkt. Das Judenthum hat die Führerschaft der goldenen Internationale übernommen … Die, liberale‘ Gesetzgebung hat uns dem Kapitalismus gegenüber nahezu wehrlos gemacht … Ein Volk von geborenen Kaufleuten unter uns, die Juden, hat eine Aristokratie, die des Geldes, geschaffen, welche alles zermalmt von Oben her, aber zugleich auch eine kaufmännische Pöbelherrschaft, welche durch Schacher und Wucher von Unten herauf die Gesellschaft zerfrisst und zersetzt.“ Die Assoziation von Juden und Ratten wirkte ebenfalls fort und fand sich breit ausgewalzt wieder in dem nationalsozialistischen Propagandafilm Der ewige Jude von 1940. Anfang der 1890er Jahre hatte Marr, wie der zeitgenössische Historiker Ernst Viktor Zenker berichtet, „auch dieser Gesinnung [Antisemitismus] wieder abgeschworen und als verbitterter, zurückgezogener Mann in Hamburg die schlotternden Sympathien seines Greisenalters wieder den anarchistischen Idealen der Jugend zugewandt.“.

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