Eigenh. Manuskript.
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Elias Canetti (1905–1994), Schriftsteller. „Dankrede: Preis der Stadt Wien 1966“. E. Manuskript. O. O., [1966]. 6 Seiten auf 3 Bll. 4°. – Manuskript der großen Rede, die Canetti auch im Namen der anderen Preisträger – für Publizistik Friedrich Torberg, für Bildende Kunst Arnulf Neuwirth und für wissenschaftliche Publikationen Otto Erich Deutsch – gehalten hat: „[...] Ich bin mit Freuden nach Wien gekommen, um Ihnen zu danken, wer käme nicht mit Freuden nach Wien, und gar zu einer solchen Gelegenheit käme mancher gern von noch viel weiter her geflogen. Sie haben mich dieser hohen Ehre für würdig befunden, obwohl ich schon lange nicht mehr unter Ihnen lebe. So sollte ich Ihnen vielleicht einiges von dem sagen, was mich von früh auf mit Wien verbindet. Ich bin auf ungewöhnliche Weise mit Wien bekannt geworden. In den ersten 6 Jahren meines Lebens, die ich in einer Stadt an der unteren Donau in Bulgarien verbrachte, verstand ich kein Deutsch. Aber meine Eltern, die beide in Wien zur Schule gegangen waren, sprachen es untereinander. Es war Ihre Geheimsprache vor uns Kindern [...] Ich hörte Ihnen mit der wilden Neugier eines Kindes zu, ahmte die Laute nach, die ich nicht verstand, übte sie und wiederholte sie für mich in stundenlangen Spielen. Ein Wort, das besonders häufig vorkam, war der Name dieser Stadt, es war das erste und lange das einzige Wort, dessen Sinn meine Eltern mir preisgaben. Ich darf also sagen, dass ich von der deutschen Sprache während 4 oder 5 Jahren ein einziges Wort verstand, und dieses Wort war Wien [...] Ich lernte meine spätere Frau kennen, eine gebürtige Wienerin, in der ersten Vorlesung von Karl Kraus, die ich besuchte [...] Erwachsen verfiel ich Karl Kraus, wie ich als Kind der Grottenbahn verfallen war [...] Es wäre unmöglich, in wenigen Worten zu sagen, was ich diesem Mann verdanke. Er hat mir ganz buchstäblich das Ohr aufgetan und von dem Augenblick an, da ich ihm begegnet bin, konnte ich nicht mehr auf die Strasse oder in ein Lokal gehen, ohne zu hören. Ihnen brauche ich gewiss nicht zu sagen, welche Vielfalt, welcher Witz, welche Vitalität der Sprache Wiens eignen. Sie ist in all ihrem Reichtum in das Werk des grössten, man wäre versucht zu sagen: des einzigen Komödiendichters deutscher Zunge eingegangen: Nestroys [...] Die wahrhaft schöpferischen Männer einer späteren Generation, die als meine Zeigenossen in Wien lebten, deren Namen Scheu in mir weckten, die mich mit Ehrfurcht erfüllten, waren Karl Kraus, Robert Musil, Hermann Broch, Alban Berg und Anton Webern [...] Die nichtssagenden und ephemeren Erfolge anderer haben sie nie verlockt, ein hartnäckiger Instinkt für das Unverwechselbare, das sie in sich hatten, verliess sie nie [...] Vielleicht sind nicht alle, die hier leben, sich dessen bewusst, dass die Zeit zwischen den Weltkriegen in Wien in den Augen der Welt als die einer grossen geistigen Blüte erscheint [...] in allen Hauptstädten, die es noch sind, werde ich immer wieder nach den Männern gefragt, deren Namen ich genannt habe, nach ihrem und nach Adolf Loos, nach Schönberg, nach Freud [...] Als Zeuge dieser Zeit gehöre ich, wo immer ich bin, doch wirklich zu Wien [...]“. – In einer Rezension anläßlich des Erscheinens des zehnten Bandes von Canettis Werkausgabe bei Hanser („Aufsätze – Reden – Gespräche“, München 2005) bemerkt Franz Haas in der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Ein völlig anderer Canetti wird in den diversen Dankreden sichtbar. Diese stehen in ihrer feierlichen Milde in krassem Gegensatz zu den Aufzeichnungen und zum ‚Dialog mit dem grausamen Partner’ in den geheimen Tagebüchern, in denen er Hohn in alle Richtungen versprüht. Vor der ‚Dankrede für den Preis der Stadt Wien’ 1966 muss er ziemlich viel Kreide gegessen haben. Da rühmt der liebenswürdige Herr ‚die Schönheit dieser Stadt’ und erinnert sich gerührt an den Wurstelprater, an Nestroy und Kraus. Kein Wort von Mord und Vertreibung, von arischen Peinigern und jüdischen Opfern [...]“ (NZZ v. 23. VII. 2005). – Stellenweise mit kl., möglicherweise durch partielles Zusammenkleben bedingten Schabstellen.