Eigenh. Manuskript in Tinte, Filzschreiber und Bleistift.
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Scheel am Tag von Willy Brandts Tod über Brandt: „[…] Vom ersten Tage seiner Kanzlerschaft bis zu seiner letzten Kabinettssitzung sass ich neben ihm. Er leitete die Diskussion mit ruhiger Geslassenheit. […] Selbst, wenn Helmut Schmidt seinem Temperament freien Lauf liess, war keine Veränderung des Sitzungsablauf zu vermerken. Er verfolgte die Diskussion mit grosser Aufmerksamkeit, manchmal erkennbar amüsiert, von Zeit zu Zeit schob er mir kleine Zettel zu, meist mit ironischen manchmal spöttischen Anmerkungen. […] Ich erinnere mich an jene Wahlnacht. Bis kurz vor 2 Uhr war nicht sicher, wer die Mehrheit erreichen würde. […] Dann kam, nachdem sich eine wenn auch knappe Mehrheit für eine SPD/FDP Regierung abzeichnete, der Anruf von Willi Brandt. Die Frage war kurz - kann ich vor die Kameras treten und ankündigen, dass ich versuchen werde, mit Ihnen eine Regierung zu bilden? Die Antwort war noch kürzer: Ja! Ich wusste, welche Auseinandersetzungen in der eigenen Partei mir da bevorstand. Aber die Regierungsbildung gelang und wir hatten den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler der Nachkriegszeit. […] Willi Brandts Reputation als ein Mann des Widerstandes hat meine schwierige Aufgabe, in unseren Verhandlungen mit der Sowjetunion, Polen und der CSSR, unseren westlichen Alliierten immer an unserer Seite zu haben, sehr erleichtert. […] Der Höhepunkt seiner Kanzlerschaft war der glänzende Wahlsieg nach dem gescheiterten Misstrauensvotum. Die SPD wurde erstmals stärkste Partei und die FDP hatte 50% Stimmenzuwachs. Dieses Jahr 1972 war eine Zäsur. Der Nobelpreis-Träger, der Wahlsieger hatte in dieser Zeit eine grosse Volksbewegung für seine Wahl in Gang gebracht. Oder besser: Alle hatten mithelfen wollen. Brandt war auf dem Höhepunkt seines Ansehens, und doch zeigte er Anzeichen von Ermüdung. […] Und dann kam 1974, die Affaire Guillaume. In den stundenlangen Gesprächen, dich ich unter vier Augen mit Willi Brandt in den entscheidenden Tagen führte, wurde mir klar, dass diese Affaire nicht der eigentliche Grund für seinen Rücktritt war. Es war wohl die Erkenntnis, dass führende Leute seiner Partei seinen Rückzug aus der Politik wollten. Wehner hatte es deutlich genug gesagt. Er nutzte den Spionagefall, um seine Absicht einen Schritt weiterzubringen. […] Deutschland hat heute einen seiner Besten verloren. Ich traure, mit allen, die um ihn weinen. […]“ - Hotelbriefbogen.