E. Brief mit U.
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Rainer Maria Rilke (1875–1926), Dichter. E. Brief mit U., Val-Mont, 20. März 1926, 8 Seiten auf 4 (d. s. 2 Doppel-)Blatt. 8°. – Schöner, großer Brief an den Schweizer Literaturhistoriker, Kritiker und Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung Eduard Korrodi (1885–1955) aus Rilkes letztem Lebensjahr. Gegen Ende des Vorjahres war der Dichter erneut ins Sanatorium Valmot gekommen, wo er bis Ende Mai verbleiben sollte. Korrodi wisse, daß er „im Allgemeinen nicht und nie lese, was etwa über meine Publikationen veröffentlicht wird (um die zentrale Haltung im Innern meiner Arbeit nicht aufgeben zu müssen)“, doch seien ihm nun „diese Woche die letzten Correctur-Bogen jenes Buches französisch entworfener Verse“ – d. i. „Vergers suivi des Quatrains Valaisans“ – zugegangen, „das in der Collection ‚Un Œuvre, un Portrait’ (aux Editions de La Nouvelle Revue Francaise) nächstens an den Tag kommen wird. Ich weiß nicht, ob das bescheidene Erscheinen der kleinen Auswahl die Vorwürfe, die sich wider mich erhoben haben, erneuern und vermehren wird. Aber ich bitte Sie, lieber Herr Dr. Korrodi, schon heute um die Gunst, mir in Ihnen einen Mitwisser schaffen zu dürfen und einen Vertreter der wirklichen Anlässe, die meiner französischen Nebenleistung und ihrer Bekanntmachung zugrunde liegen. Das Absurde erscheint mindestens überflüssig; und in diese Rubrik, des überflüssig Absurden, müßte ich die Vermutung einstellen, zu denen meine Versuche, einer nicht ursprünglich meinigen Sprache ein Eigenes und Eigentümliches abzuringen, den Vorwand geboten haben“. Es folgt eine sehr anschauliche Beschreibung des Buches, das zusammen mit den anderen zwischen 1924 und 26 entstandenen Gedichten – veröffentlicht mit den Titeln „Les fenêtres. Dix poèmes“ (1927) und „Les roses“ (1927) – fast das gesamte in französischer Sprache geschriebene Opus Rilkes ausmacht: „Es ist schließlich niemand (nicht wahr?) verpflichtet zu wissen, welche Bedeutung die große schweizerische Gastfreundschaft, nach jenen Jahren tiefster Verstörung und Unterbrechung, für die Fortsetzung meines Lebens und meiner Arbeit mehr und mehr annehmen sollte; und ich frage mich, ob für mich eine Pflicht besteht, mich über diese Fügungen auszusprechen? Ich hielt es für hinreichend, ihre Ergebnisse, nach und nach, vorzulegen. Zu diesen gehört, nach den Sonetten an Orpheus und dem Band der Elegien, auch diese Sammlung französischer Verse, die ich recht passend mit dem (von der Königin Christine von Schweden für gewisse Aufzeichnungen gewählten) Titel ‚Nebenstunden’ hätte benennen dürfen. Nebenstunden: in denen gleichwohl ein Hauptgefühl sich geltend machte. Das Gefühl für die reine und großgeartete Landschaft, aus der mir, in Jahren der Einsamkeit und Zusammenfassung, ein unaufhörlicher und unerschöpflicher Beistand zugewachsen war. Abgesehen von jenen frühesten jugendlichen Versuchen, in denen die Einflüsse meiner [P]rager Heimath sich durchsetzen wollten, hatte ich mich nie mehr hingerissen gefühlt, eine erlebte Umgebung unmittelbar im Gedicht zu rühmen, sie zu ‚singen’; nun erhob sich, im vierten dritten Jahre meines dort Angesiedeltseins, aus mir eine walliser Stimme, so stark und unbedingt, daß die unwillkürliche Wortgestalt in Erscheinung trat, bevor ich ihr das Mindeste gewährt hatte. Nicht um eine beabsichtigte Arbeit handelt es sich hier, sondern um ein Staunen, ein Nachgeben, eine Überwältigung. Um die Freude, mich unvermutet an einer mehr und mehr erkannten Landschaft zu bewähren; um die Entdeckung, mit ihr umgehen zu dürfen im Bereich ihrer eigenen Laute und Akzente. Und ganz zuletzt, wenn alles erwähnt sein soll, um die beglückende Erfahrung, jünger zu sein, fast jung im Gebrauch einer zweiten Sprache, in der man bisher nur aufnehmend oder praktisch betätigt gewesen war und deren steigender Überfluß (wie man das ähnlich, in jungen Jahren, an der eigenen erfahren hatte) einen nun, im Raume des namenlosen Lebens, zu tragen begann. So ist also, seinen Ursprüngen nach, dieses Buch Gedichte zunächst ein schweizerisches Buch, und es war mir recht, daß, neben dem von Freunden gewählten Titel ‚Vergers’, der Name der größeren Gedicht-Gruppe, um die herum die übrigen Verse sich angesetzt hatten, der ‚Quatrains Valaisans’, auf dem Umschlag mit zur Geltung kommen soll [...]“. – Mit einigen kl., unbed. Einr. und gelegentlichen Tintenwischern.