Brentano, Lujo
Nationalökonom (1844–1931). 4 eigenh. Briefe mit U. und 3 eh. Postkarten mit U. München, London, Prien am Chiemsee und Baden-Baden. Zusammen (4+1½+1¾+¾+1+2+1=) 12 SS. auf 11 Bll. Verschiedene Formate. Mit einer Beilage (s. u.).
3.000 €
(19890)
Inhaltsreiche Korrespondenz mit dem Politiker und Volkswirtschaftler Gerhard von Schulze-Gaevernitz (1864–1943), u. a. über Postenbesetzungen, eine Reise nach London zur „Wiedererneuerung freundschaftlicher Beziehungen“ (27. November 1919), eine neu zu gründende Freihandelsliga, die Gefahr der Wiedereinführung des Zollgesetztes und das „Rüsten der Arbeitgeber gegen die Arbeiter“ (11. August 1925) sowie mit einer ausführlichen Besprechung von Schulze-Gaevernitz’ eben erschienenem Buch „Britischer Imperialismus und englischer Freihandel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts“: „[...] Als das ökonomische Fazit Ihrer Darstellung ergibt sich mir Folgendes: England ist ein Rentnerstaat u.
Deutschland wird ein Rentnerstaat werden, wie denn auch Frankreich heute wesentlich Rentnerstaat ist. Es ist dies die notwendige Folge des Kapitalismus. Das Kapital sucht die Anlage, die am meisten Gewinn bringt. Der Rentnerstaat ist nicht im Widerspruch mit dem Freihandel, sondern sein Ausfluß. Nicht daß das Schutzzollsystem die Verwandlung des Industriestaats in den Rentnerstaat aufhalten könnte; sie tritt auch bei ihm ein. Allein sie tritt ein im Widerspruch mit dem Schutzzollsystem, während sie dem Geist des Freihandels entspricht. Denn der Freihandel verlangt, daß jedes Kapital die ihm vorteilhafteste Anlage suche. Daher denn das Kapital ins Ausland und in Colonien abströmt, sobald dort die Gewinnste höher werden als zu Haus. Die Folge ist: Dem Inland bleiben nur die Industrien, in denen es die größten Vorteile hat, und außerdem die Gewerbe, die für den heimischen Bedarf unentbehrlich sind. Je mehr der Staat Rentnerstaat wird, desto mehr nehmen die letzteren zu. Das zeigt sich schon deutlich an England. Die Renten aus dem Ausland werden im Inland verzehrt; die Nachfrage nach Arbeitern für Bauten, Wohnungen, Luxus aller Art im Inland nimmt zu; die Lage der darin beschäftigten Arbeiter hebt sich. [|] Die Verwandlung Englands (und ganz Europas) in einen Rentnerstaat heißt aber nichts anderes als fortschreitende Urbarmachung der Welt. Die vom ausgewanderten Kapital urbar gemachten fernen Länder und Weltteile blühen auf. Sie werden mehr und mehr die Sitze der großen Erwerbszweige. Dem Mutterland bleibt nur die alte Kultur. Es gedeiht, so lange es um ihretwillen aufgesucht wird, solange die Rentner um ihretwillen in ihm ihre Renten verzehren. Es wird gefährdet, so bald dieses aufhört. Fragt sich: Was ist die Bedeutung von Imperialismus u. Freihandel für diese Frage? Imperialismus bedeutet gewaltsame Übertragung des Schwerpunktes in die Colonien bei Unmöglichkeit, diese bei ausbrechenden Differenzen zusammenzuhalten; die Differenzen werden um so früher ausbrechen, je mehr der Imperialismus diese Entwicklung forci[e]rt; dann folgt eine Auflösung des Bandes in Feindschaft. Freihandel verzichtet auf staatliche Bindung der wirtschaftl. Verhältnisse, die bei dem einen wie dem anderen Systeme sich gleichmäßig entwickeln werden, verläßt sich auf die tatsächlichen Vorzüge, die das Mutterland bietet, u. gewährt daher größere Aussicht auf Dauer. Im einen wie im anderen Fall wird das Ende das gleiche sein. Die Zukunft gehört nicht den heutigen Kulturländern, sondern den neuen Weltteilen u. Asien u. Afrika. Europa sinkt in das Verhältnis Griechenlands zum römischen Reiche. Die Führung ist nie bei einem Volke geblieben; in Zukunft wird sie auch nicht bei einem Erdteil, bei Europa, bleiben. Das sind hier nur angedeutete ökon. Consequenzen. Sie ergeben sich m. E. mit Notwendigkeit aus der Natur des Rentnerstaats. Weder Militarismus noch Imperialismus, weder Schutzzoll noch Freihandel werden daran etwas ändern. Es heißt nur sich darauf einrichten. Sie scheinen dagegen an die wunderwirkende Kraft einer Weltanschauung zu glauben. Hier kann ich Ihnen nicht folgen [...]“ (aus einem undatierten, wohl 1906 geschriebenen Brief). – Teils mit einigen Stecknadeldurchstichen im linken oberen Rand, kleinen interlinear glossierten Transkriptionen von fremder Hand und zahlr. Unterstreichungen in Blei- und Farbstift, tls. auch mit kleinen Rostspuren und Randläsuren. – Beiliegend ein Blatt mit Lektüreexzerpten von nicht identifizierter Hand (1¾ SS. Gr.-8vo), der Br. v. 4. April 1917 mit einer halbseitigen Antwortnotiz des Adressaten..