Wiewohl es nicht viel und auch unvollständig ist. Von allen Seiten erfuhr ich, dass seine Vorlesungen etwas langeilig und wenig besucht sind; verschiedene Leute sagten übereinstimmend, dass er etwas selbstbewusst auftrete, dagegen nannte ihn z.B. Seeliger einen eher feinen Menschen. […] Das ist alles; wenn ich mehr erfahre, theile ich es Ihnen mit. Herzlichen Dank für Ihre ausführlichen Briefe! […] Kollikers Verhalten in der Angelegenheit ist nicht zu billigen: er ist etwas kindisch geworden und ich glaube mit Ihnen, dass er nicht gut ist. Wenn man ihm in allem nachgibt. Aber trotz alledem bedauere ich es doch, dass die Jagdgemeinschaft ein solches Ende genommen hat. Selbstverständlich ohne dass ich Ihnen auch nur im geringsten eine Schuld beimesse. Ihre Mittheilungen über die Leipziger Verhältnisse haben mich ganz besonders interessiert. Jedenfalls sind jetzt dort Verhältnisse geschaffen, die von den bisher als gewöhnlich geltenden sehr abweichen. Helmholtz-Kirchhof, Warburg, Planck, Kamerling, Ohm, Lorentz, Wiener-Boltzmann: das sind Combinationen, die bisher als typisch gelten konnten. Ihnen entsprechend waren auch die Institutsverhältnisse. Bei der Verbindung Wiener-[…] von denen nun beide über ein nach jeder Richtung hin ausgerüstetes Institut verfügen können - , und die beide eine sehr auskömmliche Einnahme haben, haben wir es, von Göttingen abgesehen, mit einem Novum zu thun; und ich bin begierig zu erfahren, wie sich die Sache später macht. Die verlockende Stelle vermehrt vielleicht die Anzahl der Theoretiker. In nächster Zeit müssen die Vorschläge für den Nobel-Preis 1903 gemacht werden. Im ersten Jahr hatte ich - ohne Erfolg - W. Thomson, dann im zweiten Jahr mit
mehr Erfolg Lorentz (allerdings allein) vorgeschlagen. Ich meine diesmal sollte doch ein Engländer gewählt werden. Für Arrhenius, den ich als Schwede gern vorschlagen möchte, kann ich mich nicht entschliessen. […]“
Ein in mehrere Hinsicht aufschlussreicher Brief, der zum einen zeigt, wie innerhalb des wissenschaftlichen Netzwerkes Erkundigungen über Kollegen eingeholt wurden und zum anderen einen Einblick in die Nominierung für den Nobelpreis durch den Nobelpreisträger Wilhelm Conrad Röntgen gibt.
Der erste Teil des Briefes ist geprägt vom Austausch von Interna. So geht es um den Ruf eines Dr. Weber, dessen Vorlesungen langweilig seien, und um das Verhalten eines Kolliker. Dabei könnte es sich um Albert von Koelliker (1815-1905), der 1849 Gründungsmitglied der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft in Würzburg war, vor der Wilhelm Conrad Röntgen am 23. Januar 1896 die kurz zuvor entdeckten Röntgenstrahlen vorsteoote. Dabei wurde die Hand von Kölliker als Anschauungsobjekt benutzt. Nach der Vorstellung schlug Kölliker die Benennung als Röntgenstrahlen vor. Bis dahin hatte Röntgen die Bezeichnung X-Strahlen benutzt. Die nicht näher geschilderte Auseinandersetzung hatte offenbar Auswirkungen auf die Jagdgemeinschaft. Dabei könnte es sich um eine Jagd im Gramschatzer Wald handeln, die noch zu Röntgens Würzburger Zeit gepachtet worden war. Des weiteren äußert sich Röntgen zur Ausrichtung der Universität Leipzig bei der Besetzung der Lehrstühle.
Um die Nominierungen des Nobelpreise 1903 dreht sich der zweite Teil des Briefes. Ohne Erfolg hatte Röntgen William Thomson (1824-1907) vorgeschlagen. Der britische Physiker war ein Vorreiter auf den Gebieten der Elektrizitätslehre und der Thermodynamik. Die Einheit Kelvin wurde nach William Thomson benannt, der im Alter von 24 Jahren die thermodynamische Temperaturskala einführte. Thomson ist sowohl für theoretische Arbeiten als auch für die Entwicklung von Messinstrumenten bekannt. Röntgens Nominierung für den Preis 1902, Hendrik Antoon Lorentz (1853-1928), erhielt tatsächlich den Preis gemeinsam mit dem niederländischen Physiker Pieter Zeeman für die Erklärung des Phänomens, das als Zeeman-Effekt bezeichnet wird. Röntgen erwähnt den Namen Svante August Arrhenius (1859-1927), für den er sich laut Brief nicht recht entscheiden kann. Ob er Arrhenius nominierte bleibt unklar. Der schwedische Physiker und Chemiker erhielt jedenfalls 1903 den Nobelpreis für Chemie. Er wies nach, dass in Wasser gelöste Salze als Ionen vorliegen. Die Salze zerfallen im Wasser vielfach nicht vollständig in Ionen, sondern nur – abhängig von der Konzentration – zu einem bestimmten Prozentsatz. Der Nobelpreis für Physik ging 1903 auch nicht an einen Engländer, wie von Röntgen gewünscht, sondern an das Trio Pierre Curie, Henri Antoine Becquerel und - Marie Curie.
Wilhelm Wien (1864-1928) war ab 1900 Nachfolger Röntgens in Würzburg. 1911 erhielt Wilhelm Wien den Nobelpreis für Physik für seine Forschungen zur Wärmestrahlung. Sein bekanntester Beitrag zur Erforschung der Wärmestrahlung ist das Wien'sche Verschiebungsgesetz welches einen Zusammenhang zwischen der Temperatur eines Planck'schen Schwarzkörpers und der Wellenlänge, bei der die größte Strahlungsleistung liegt, herstellt. Es dient u.a. zum Verständnis des Treibhauseffekts in der Meteorologie.
Wilhelm Conrad Röntgen entdeckte am 8. November 1895 im Physikalischen Institut der Universität Würzburg die nach ihm benannten Röntgenstrahlen; hierfür erhielt er 1901 bei der Vergabe der ersten Nobelpreise den ersten Nobelpreis für Physik. Seine Entdeckung revolutionierte unter anderem die medizinische Diagnostik und führte zu weiteren wichtigen Erkenntnissen des 20. Jahrhunderts, z. B. der Entdeckung und Erforschung der Radioaktivität. Vom 1. April 1900 an war Röntgen an der Universität München als ordentlicher Professor für Physik tätig..